Isabel Kirschner

Düsseldorf

Blankenheim / Eifel

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Alles von vorne

 

Langsam faltet Karim seine drei T-Shirts und legt sie zu den anderen Kleidungsstücken auf das Bett. Eine alte graue Tasche wartet darauf, gefüllt zu werden.

Er greift nach seinem Handy und schaut sich das Foto an. Fast schon zärtlich drückt er es an sein Herz. Sachte streicheln seine Finger über die vielen Macken und Kratzer, die es in den letzten drei Jahren abbekommen hat.

Das Handy an sein Herz gedrückt, setzt er sich auf das Bett.

In seiner Nase den längst vergessenen und doch so wohlvertrauten Duft nach Angst.

Traurig schweift sein Blick durch das karg eingerichtete Zimmer. Am Fenster steht das Bett seines Zimmernachbarn. Dieser wurde letzten Monat achtzehn und musste ausziehen. 

Vergangene Woche besuchte Karim ihn im Asylantenheim. Dort bewohnt er einen Raum mit zwei weiteren Männern. Als der Jüngste schläft er auf dem Stockbett oben und muss die Frauenarbeit wie putzen, spülen erledigen. In seinem Heimatland bestimmen die Älteren über die Jüngeren.

Ein kleiner quadratischer Holztisch trennt die beiden Betten voneinander. Karims Augen verweilen bei der Topfblume, die mitten auf dem Tisch steht. Sie verlor ihre letzte Blüte in der vergangenen Woche.

Seine Blume, die er direkt nach dem Einzug in die Wohngruppe kaufte. Eine Stunde verbrachte er in dem Laden, bevor er sich entschied.

Obwohl ihre roten Blüten noch zusammengefaltet waren, ahnte er bereits ihr zukünftige Pracht.

Neben der Blume liegt ein Geschenk und auf einem Teller ein kleiner Kuchenrest. Herzlichen Glückwunsch und eine große Achtzehn, stand auf dem Kuchen, den die Betreuerin Maria für ihn gebacken hatte.

Die Geburtstagsfeier - bitter lacht Karim auf, er sollte wohl besser sagen, die Abschiedsfeier - fand gestern statt. Alle, wirklich alle fünf Jungen aus der Wohngruppe saßen um den Tisch. ´Ein bunter Haufen aus den unterschiedlichsten Ländern´, wie Maria sagte.

Seine Familie, wie er sie heimlich bei sich nannte.

Seine Familie, seit er vor drei Jahren hier in diesem fremden Land gestrandet war.

Karim starrt  nach vorne, vorbei an der weit geöffneten Schranktür, in die Leere des weit offen stehenden Schrankes.

Die Schwärze scheint ihn aufzusaugen und wie durch einen Tunnel in die Vergangenheit zu ziehen.

Zurück nach Syrien.

Mitten in die Stadt Aleppo.

Zurück zu den zerbombten Häusern, Rauchwolken steigen empor.

Er steigt über das Geröll und geht durch die menschenleeren Straßen. Am Rand stehen Ruinen. Wo einst Fenster und Türen waren, sind jetzt Höhlen Totenköpfen gleich. Die Schreie der Verletzten, die immer mehr in ein nicht enden wollendes Wimmern übergehen, dröhnen in seinem Kopf.

Der durchdringende Geruch der Angst breitet sich in seiner Nase aus, als ihm die Stunden im Luftschutzbunker einfallen. An einer Wandseite sitzt er mit seinen Eltern. Seine Mutter, die seine beiden jüngsten Schwestern an sich drückt, stiert vor sich hin, mit vor Schrecken geweitet Augen.

Angstgeruch, den er erst nach Monaten im sicheren Deutschland verliert.

Die Flucht - ein Schauer läuft über seinen Rücken - auf die ihn sein Vater geschickt hat. Alleine ohne Familie, im Kopf einzig das Ziel Almanya.

 

Ein lautes Klopfen holt ihn zurück in diesen Raum.

Schnell wischt er mit den Händen über die Augen.

Er ist doch ein Mann!

Maria, die ihn wieder Sicherheit und Vertrauen lehrte, betritt sein Zimmer.

Schnell versteckt er das Handy. Sie soll das Foto nicht sehen, das beim letzten Gruppenausflug entstanden ist. Sein heimlich geknipstes Foto von ihr.

Sie setzt sich neben ihn, blickt auf die verblühte Bume und sagt: "Denk daran, genau wie die Blume Phasen des Blühens und Verwelkens, des Wachstums und der Ruhe kennt, unterliegt auch unser Leben den Phasen der Entwicklung. Du bist stark und wächst, wenn du alle Phasen akzeptierst."

Liebevoll lächelt sie ihn an. "Und jetzt komm, das Auto wartet."