Isabel Kirschner

Düsseldorf

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Stinker


 

Mit hochrotem Kopf steht Hakim am Rand der Gruppe. Das Wort "Stinker" hallt in ihm nach.

Der Klassenkamerad hat es eindeutig zu ihm gesagt. Er schaut sich in der Gruppe um. Keinen der anderen scheint es zu empören. Fröhich plaudern sie weiter, necken sich.

Wieder einmal ist ihm deutlich gezeigt worden, dass er nicht dazu gehört. Sein Herz pocht. Sein Kopf glüht. Wie peinlich, dass die Kameraden ihn so sehen. Er hebt seinen Kopf und lacht mit den anderen über einen Witz. Bloß keine Schwäche zeigen und sich verletzlich machen.

Ob er jemals in diese Klasse gehören wird? All seinen Mut benötigt er, um sich in den Pausen immer wieder zu seiner Klasse zu stellen und nicht abseits zu stehen.

Doch egal wo er steht, immer durchbohren in die Blicke der anderen. Komisch, jeder erscheint ihn als Flüchtling zu erkennen. Worin unterscheidet er sich nur von den anderen Ausländern? Er blickt an sich hinab. Eine löchrige Jeans umschlottert di emageren Beine. Dazu trägt er seine Jeansjacke. Sie war sein erster Kauf in Deutschland. Sie begleitet ihn im Sommer wie Winter. jeans sind modern in Deutschland. Obwohl er lange brauchte, bis er sich an die löchrigen Jeans gewöhnte. Irgendetwas muss er anseinem Outfit ändern, damit er endlich dazugehört., überlegt er.

Dazu gehören, so wie damals in Syrien, als er mit Freunden um die Häuser zog.

Die Sehnsucht  nach seiner Heimat und all dem Vertrauten ist allgegenwärtig. Und das obwohl er seit 18 Monaten in Deutschland ist. 

Hier scheint so vieles auf den Kopf gestellt. Eine tiefe Verlorenheit erfüllt ihn. Erinnerungen an seine Mutter, die ihm erklärt hat, was richtig und was falsch ist _ in seinem Land und seiner Religion.

Hier in Deutschland muss er sich das selbst erarbeiten.

Hier gelten andere Regeln. Vieles, was Sünde war, gehört hier selbstverständlich zum Leben dazu.

Im ersten Sommer in Deutschland sah er beschämt zur Weite, wenn er Mädchen in kurzen Röcken und ärmellosen Tops erblickte. Inzwischen ist der Anblick alltäglich für ihn.

Er genießt die Freiheit in Deutschland. Obwohl sie in ihm Schuldgefühle weckt, wenn er z.B. im Ramadan sein Blick auf dei entblößten Arme einer Klassenkameradin fällt.

 

Ob er stinkt? Verstohlen schnüffelt er an seinem Pullover.

Riecht normal.

Wie so oft, ist es auch heute Morgen hektisch in der Wohngruppe gewesen. Ständig war das Badezimmer besetzt, da jeder sich für die Schule stylen wollte. Er hat sich statt für das Duschen für ein pünktliches Ankommen entschieden. Er ist der einzige aus der Wohngruppe, der auf die Realschule geht. Alle anderen besuchen die internationalen Förderklassen der Berufsschule.

Schule ist das Wichtigste für ihn, Bildung das höchste Gut, wie sein Vater ihm immer wieder eingebläut hat. Bevor er von ihm auf die Flucht geschickt wurde.

In Syrien war Hakim einer der Besten in der Klasse.

Aus diesem Grund und weil er erst 15 jahre alt war, ist er als einziger aus der Familie nach Deutschland geschickt worden. In das Land der guten Schulbildung.

Daran, dass es so fremd und einsam werden würde, hat er im Traum nicht gedacht. Der Weg vom Flüchtling zu einem normalen Jungen scheint ihm in weiter Ferne.

Er bewundert seine deutschen Mitschüler. Wie lässig sie mit den Lehrern diskutieren, wie selbstbewusst der Umgang mit Mädchen ist. Ob das alles für ihn einmal so leicht werden wird?

 

Die nächsten Schultage funktioniert Hakim wie ein Roboter.

Äußerlich wirkt er wie immer. Doch sein Kopf ist ausgefüllt mit dem Wort ´Stinker`. Alle hereinkommenden Informationen prallen an diesem Wort ab, wie an einer Mauer. Und müde ist er, so müde.

Seine Nächte sind kürzer geworden, weiterhin nutzt er die Ruhe der Nacht und lernt Deutsch. Morgens steht er als Erster auf und duscht - wenn sie nicht, so wie heute, von anderen blockiert ist.

Bloß die Ziele nicht aus den Augen verlieren.

In der Pause stellt er sich weiterhin zu der Klassengruppe.

Bloß nicht aufgeben, stattdessen das Ziel ´dazugehören`weiter verfolgen.

 

Sein Plan scheint aufzugehen. Wochen später oder waren es nur Tage, begleitet ein Klassenkamerad ihn in der Mittagspause. Sie kommen ins Plaudern über einen Freund.

"Nikolas, der alte Stinker, hat doch tatsächlich die Lena gefragt, ob sie neben ihm sitzen will. Und ich träum nur davon."

Bei dem Wort ´Stinker`horcht Hakim auf und fragt möglichts unbeteiligt, damit der andere nicht seine Angespanntheit merkt: "Was heißt denn ´Stinker`?"

"Das ist eine liebevolle Bezeichnung für ein freches Kind, wir benutzen das oft wie ´Alter`", antwortet ihm der Klassenkamerad.