Isabel Kirschner

Düsseldorf

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Im Verborgenen

 

 

"Wallah, wenn ich euch erzähle, was ich erlebt habe", flüstert Ali geheimnisvoll und beugt sich nach vorne.

"Erzähl", sagt Anas.

Ali lehnt sich entspannt im Sessel zurück, streckt seine weit geöffneten Beine von sich. Mit hochgezognenen Augenbrauen lässt er seinen Blick langsam von einem zum anderen wandern, bevor er seine rechte Hand zu Anas streckt. "Gib mal die Shisha", fordert er ihn auf.

Anas reicht ihm den Schlauch und sieht ihn erwartungsvoll an.

Genüsslich zieht Ali an der Shisha und stößt den Rauch in kleinen Kringeln wieder aus.

"Am Bahnhof hat mich die Polizei festgehalten, Al hamdullah, hatte ich den Ausweis mit", erzählt Ali und nimmt einen weiteren tiefen Zug.

"Ich wusste es!", sagt Mohamad empört. "vor ein paar Tagen wurde ein Mädchen bei München von einem Flüchtling vergewaltigt. Schrecklich! Klar und wir werden kontrolliert."

Während der Worte wird seine Stimme immer lauter.

"Ich bleibe  nur noch zuhause", stellt Mohamad fest und greift mit zitternder Hand nach der Shisha.

Anas und Ali zwinkern sich grinsend zu.

"Klar, nur  noch arbeiten und Shisha rauchen", sagt Ali und lacht. "Bruder, mich haben sie auch gehen lassen. Wir haben nichts gemacht."

Gedankenverloren stiert Mohamad vor sich hin, schüttelt den Kopf, zieht an der Shisha und flüstert: " Ich gehe nirgends mehr hin, wo Menschen sind. Ich schwöre."

Seine Worte rauschen an Anas und Ali vorbei, deren Aufmerksamkeit ganz einem Spiel auf ihrem Handy gilt. Frustriert betrachtet er seine Freunde, bevor er ebenfalls nach seinem Handy greift.

Eine Stunde später stellt Anas mit einem Blick auf das Handy fest: "Es ist schon spät! Wir müssen los, sonst verpassen wir die Bahn."

Die drei springen auf, bezahlen und sprinten zum Bahnhof. Leer und verlassen liegt der Bahnhof mit seinen zwei Gleisen vor ihnen. Anas und Ali setzen sich auf die freistehende Bank. Mohamad steht vor ihnen und lässt seinen Blick durch die Gegend wandern.

Anas, erst seit einem Jahr in Deutschland, zeigt auf die Anzeigetafel, da er das lange Wort, das hinter ihrer S-Bahn eingeblendet steht, nicht versteht. "Was bedeutet das?", fragt er die beiden anderen.

Genervt stöhnt Ali auf: "Verspätung. Die Bahn kommt später, inshallah.

Obwohl er einen dicken Wollpulli unter seiner dünnen Jacke trägt, fröstelt Mohamad. In den drei Jahren, die er bereits in Deutschland lebt, hat er sich immer noch nicht an die Kälte gewöhnt. Er zieht seine Jacke enger um sich und presst aus zusammengebissenen Zähnen hervor: "In einem Jahr, mit achtzehn mache ich meinen Führerschein und kaufe ein Auto. Und wenn ich neben der Ausbildung in einem Döner Laden arbeite."

Er wippt von einem Fuß auf den anderen, damit ihm warm wird. Sein Blick schweift in die Ferne. Auf einmal zögert er, seine Augen fixieren einen Punkt hinter den beiden Freunden im Gebüsch. Ein bunt aussehender Fleck lässt seinen Puls schneller schlagen.

"Da hinten liegt etwas", unterbricht er seine Frreunde. "Kommt, wir schauen was das ist."

Die drei stehen auf und nähern sich dem Gebüsch. Mit jedem Schritt erkennen sie, dass der bunte Fleck zu einem Hemd gehört. Einem Hemd, in dem ein Körper steckt. Bewegungslos liegt er im Gebüsch.

"Ein Mann", flüstert Mohamad tonlos, sein leicht gebräunter Teint erbleicht. All die Toten, die er in seinem Heimatland Syrien gesehen hat, kommen in seine Gedanken. Längst hatte er aufgehört, sie zu zählen. Anfangs hatte ihn der Anblick erschüttert. Doch im Laufe der Zeit wandelte sich die Erschütterung in Normalität. Umso mehr verwundert ihn nun sein Herzklopfen, bei dem Bild, welches sich ihm bietet. Dabei haben sie nicht einmal überprüft, ob der Mann tatsächlich tot ist.

Innerhalb von Sekunden spielt sein Verstand alle möglichen Reaktionen durch. Weglaufen ist die erste und einfachste.

Ist doch die Angst zu groß, dass die Situation verkannt wird und sie schuldig gesprochen werden, weil sie als Flüchtlinge in dieses Land gekommen sind.

Doch die Option wegzulaufen, besteht nur an der Oberfläche.

Es gibt nur eine mögliche Reaktion, das ist ihm schnell klar und die besteht im Helfen. Egal, wie die Situation später ausgelegt wird.

Langsam nähert er sich dem Mann. Seine Freunde folgen in gebührendem Abstand. Der Geruch nach Erbrochenem weht ihm entgegen. Mohamad geht näher, seinen Würgereiz mühsam unterdrückend. Während er seinen Atem anhält, führt er seine rechte Hand vorsichtig vor die Nase des Mannes. Ein schwacher Lufthauch erreicht sie.

"Er lebt", flüstert er seinen Freunden zu, die die Situation mit sicherem Abstand beobachten.

Mohamad zieht sein handy aus der Tasche. Schnell sind Polizei und Rettungswagen alarmiert.

Ali und Anas kehren um und gehen zur Bank zurück. Mohamad kauert sich neben den Mann. Er will ihn nicht alleine lassen. Leise spricht er mit ihm.

Aus den Augenwinkeln sieht er die verspätete Bahn die in den Bahnhof einfährt. Die beiden Jungs auf der Bank springen auf und hasten zur Bahn. Während sie dei Tür offen halten, rufen sie ihm zu: "Komm, die Bahn ist da."

Mohamad schüttelt den Kopf und antwortet: "Ich lasse ihn nicht alleine."

Wütend knallen die beiden die Tür wieder zu und kehren zu ihrer Bank zurück. Sie lassen sich auf die Bank fallen und schimpfen laut vor sich hin.

Mohamad hat seine Aufmerksamkeit längst wieder auf den Mann gelenkt und streichelt sachte über seinen Arm.

Endlich erscheint die Polizei und kurz danach der Rettungswagen. Mohamad erhebt sich und geht mit zittrigen Knien auf die Polizei zu. Während sie die Personalien aufnehmen und sich den Ablauf genau erklären lassen, untersuchen die Sanitäter den Mann. Schnell stellen sie fest, dass er nicht Opfer eines Verbrechens, sondern Opfer seines eigenen Alkoholkonsums geworden ist. Mit Verdacht auf Alkoholvergiftung nehmen sie ihn mit ins Krankenhaus.